Geschichten, die verkaufen – Ein Versuch?

Geschichten, die verkaufen – Ein Versuch?

Auf Linkedin blickt mich strahlend eine junge Frau an. Sie steht vermutlich in einem unscharfen Seminarraum. In der sichtbaren Hand hält sie entschlossen ein Tablet. Die andere Hand verschwindet am unteren Bildrand. Auf dem Bild steht groß der Slogan „Geschichten, die verkaufen“. Unten das Versprechen, mit guten Geschichten den künftigen Umsatz mindestens um das Zehnfache zu steigern. Ich lese weiter. Das Seminar, das mir helfen soll, in Bälde phantastische Umsätze zu erzielen, dauert sagenhafte acht Wochen. Welcher sagenhafte Preis dafür aufgerufen wird, bleibt im Dunkeln. Dazu müsste man den Link anklicken, auf der Webseite, die sich dann öffnet, seine Emailadresse und andere Daten eingeben und schon wäre die Falle zugeschnappt. Im nächsten Schritt bekäme man ein Seminarangebot, welches in seiner finanziellen Höhe den zehnfachen Umsatz, den man in nächster Zeit garantiert erzielen wird, bei Weitem übersteigen würde. Und weil man die Adresse jetzt schon einmal hat, würde das Email-Postfach sehr wahrscheinlich bald mit fröhlich positiven Verheißungen, tollen Discountangeboten, die nur noch bis Mitternacht gelten und einmaligen Gutscheincodes über 5% zugeschüttet werden. Also klicke ich den Link nicht an. Dennoch bleibt die Zeile „Geschichten, die verkaufen“ bei mir hängen. Ich habe eine Geschichte. Eigentlich habe ich viele Geschichten. Und es sind zweifelsohne Gute dabei. Warum also sollte ich nicht einmal eine Geschichte vorstellen. Keine Panik, sie ist recht kurz und in meinen „Notizen aus dem Oberstübchen“ erschienen. Wenn du sie lesen möchtest – hier ist sie:

Ein seltsamer Fund

Auf einem meiner unzähligen Streifzüge durch die Büchercontainer der Wertstoffhöfe dieser Welt stieß ich eines Tages ganz unten, und verdeckt von fort geworfenen Schulbüchern, auf ein abgegriffenes, altes Gesangbuch. Die Seiten waren vom vielen Frohlocken und Lobpreisen schon ganz speckig und zersungen. Einst hatte dieses Buch einen schönen Goldschnitt, doch auch dieser hatte im Laufe der Jahre stark gelitten. Kurzum, es war eines jener Gesangbücher, die in Massen gedruckt, nach dem Tode eines Menschen übrigblieben und mit jeder Menge anderer Erinnerungen in den Müll wanderten.

Gerade wollte ich das alte Laudate wieder in den Container zurücklegen, als zwei einzelne Blätter zwischen den eselsohrigen Seiten herausschlüpften und zu Boden taumelten. Auf dem einen Blatt war eine kuriose Zeichnung zu sehen: Nämlich eine rasch hingemalte, aquarellierte Federskizze einer Eule, die ein Zifferblatt statt eines Hauptes trägt. Über der Zeichnung hatte der Maler „Die Walduhreule“ geschrieben. Auf dem anderen stockfleckigen Blatt Papier fand sich, in verwaschener Tinte hingeworfen, ein Text, der kaum noch leserlich war. Rasch sammelte ich die Blätter ein, schob sie wieder zwischen die Seiten des Gesangbuches und trug meinen Fund eilends nach Hause. Kaum angekommen, ließ ich mich an meinem Schreibpult nieder und begann, den alten Text zu entziffern. Nach einigen Tagen des Ratens und Forschens kann ich heute behaupten, die Niederschrift in ihrem Sinn verstanden und enträtselt zu haben und möchte sie im Folgenden wiedergeben. Der unbekannte Autor schreibt in seinen Worten:

Heute, am 2. October im Jahre des HErrn 1794 begab ich mich zum Behufe des Eynsammelns von Pilzen & Röhrlingen für das Nachtmahle in den nahebey gelegenen Forst. Forschen Schrittes drang ich hierbey durch allerley dickichtes Unterholz an gar besonders verborgene Pilzstellen vor, die schon seyt Generationen in unserer Familie gleichsam einem Geheymnisse gehütet & bewahret werden. Immer tiefer wanderte ich in den düsteren Thann, so dasz ich bald schon glaubte, ganz & gar verirret & verloren zu seyn. Mein Korb war noch immer leer, als ich auf eyne Lichtung trat, die mir gänzlich & vollkommen unbekannt. Doch frohen Mutes glaubte ich, es währe mir ein Leichtes, wieder in bekannte Regiones des Waldes zurückzufinden. Aber wie sehr hatte ich mich geirret. Je weiter ich lief, desto fremder deuchte mich, was ich sah. Schon dämmerte es zur Nacht & ich gewahrte von allen Seiten ein grauslichtes Heulen & Rauschen & allerley Gethier, dasz um meine Füsze kreuchte & fleuchte. In meyner tiefen Verzweyflung & dem sicheren Tode nah, nahm ich die Beyne unter die Arme & sauste, gleichsam wie vom Beelzebuben gejagt, von diesem verwunschenen Orte hinforth. Plötzlich vernahm ich ein erschröckliches Ticken & Tacken, gerade so, als wäre mir des Satans Standuhr (sic!) auf den Fersen. Doch welch Teuffelswerk war das? Auf einem niedrigen Aste, gleychsam vor meinen Augen, sasz eine Eule. Doch war dies keine gemeyne Eule. Der unheimliche Kautz trug statt eynes Gesichtes & eynes Schnabels eine Uhr auf seinem Haupte. Darbey tickte er wie wild & schlug mit seynen Flügeln, dasz mir darob beynahe alle Sinne schwanden. Ich raste von dannen & fand mich mit eynem Male schier toth am Rande des Thanns gar nicht weit von unseren Hause wieder, wo mich meyn verzweyfeltes Weib in Empfang nahm, glaubte sie doch, ich hätte einem Bären zur Speisz‘ gedienet oder wäre unter die Räuber gefallen. Noch zu selbichter Nacht fertigte ich zum Beweise diese Aufzeychnung meines curiosen Abentheuers als wie auch ebenjene nathürliche und colorirte Zeychnung des gespenstischen Nachtvogels, dem ich in meynem gantzen Leben niemals wieder zu begegnen hoffe, so wahr mir GOtt helfe. Gez. J.F.M.

Mit diesen Worten endet der Bericht des geheimnisvollen Pilzsammlers, von dem uns nur die Initialen J.F.M. bekannt sind. Ob sein unheimliches Erlebnis der Wahrheit entsprach oder ob wir hier einer Geschichte aufsitzen, die dem überspannten Geist des Autors entsprang, werden wir wohl nie erfahren. Doch eines ist sicher, lieber Leser: Wenn Dir eines Tages auf einer Wanderung in dunklem Forst eine Walduhreule begegnet, wirst Du mir sicher davon künden.

Ob diese Geschichte verkauft? Ich wage es zu bezweifeln. Und ob sie meine, mehr als mageren Autorenumsätze verzehnfachen wird? Ehrlich gesagt, ich glaube es nicht. Aber immerhin halte ich diese Geschichte für eine ganz gute Geschichte aus einem Buch, das voll von guten Geschichten ist. Wenn du also Lust hast, noch mehr von mir zu lesen, dann sieh dir mal meine Bücher an. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll: Eigentlich ist es mir ziemlich wurst, ob die Geschichte verkauft. Es hat Spaß gemacht, sie zu schreiben und vielleicht hat es dir Spaß gemacht, sie zu lesen, denn das ist die Hauptsache, oder?

Taschenbuch El Pollo - Entscheidung in der Sierra Chica von Martin Gehring