Vater! von Anselm Maria Sellen – Beitrag zu St. Martin

Sankt Martin

 
Es ist kalt und die Kinder sind begeistert. Wir werden einem sehr alten Pony hinterherlaufen und dabei noch ältere Lieder singen. Von einem Mann, der zu geizig war, um seinen ganzen Mantel zu verschenken. Ein echtes Vorbild. Wir geben gerade so viel, dass es uns selbst nicht weh tut und fahren dann in unseren hübschen Autos in unsere hübschen Häuser. Eigentlich ist die Geschichte vom Sankt Martin eine sozialkritische Veranstaltung.

Da verschenkt einer die Hälfte seines Mantels und bekommt dafür einen eigenen Gedenktag. Kein schlechter Deal. Wir verklappen Kinderklamotten säckeweise in Rotkreuz-Containern. Da war sicher auch schon der eine oder andere Mantel dabei. Und die waren dann auch nicht zerschnitten. In 1600 Jahren wird es also einen Tag geben, an dem Kinder hinter einem klapprigen Kleinwagen herlaufen und singend meinem Lebenswerk huldigen.

Der Flur ist erfüllt vom Funktionsjackengeraschel. Kinder lachen Kinderlachen. Dann Geschrei. „Das ist meine Jacke, Marie! Gib sie her!” Lotte zückt den Schuhanzieher. Den großen, handgeschmiedeten mit den scharfen Kanten und geht damit auf ihre Schwester los. Marie pariert die Attacke geschickt mit ihrem schweren Lederstiefel. Bevor Blut fließt, entwaffne ich die Kontrahentinnen und drohe mit Hausarrest auf Lebenszeit. Ich bin sehr glaubwürdig. Und weil die Kinder wissen, dass ich jede spontane Drohung kompromisslos durchsetze, ziehen sie murrend von dannen. Ich klopfe mir selbst auf die Schulter. Ich weiß gar nicht, was die Leute immer haben. Kindererziehung ist überhaupt kein Ding. Heulsusen. Klappt doch. Wenn man es so gut macht, wie ich. Helena schiebt sich an mir vorbei und murmelt mir „Glückstreffer!” an den Kopf. Ich suche nach dem Schuhanzieher.

Irgendwann sind wir tatsächlich alle soweit. Der Treffpunkt ist die Backhaus-Bauruine in der Mitte des Dorfes. 20 Meter Fußweg. Als wir dort ankommen, hängt bereits die Hälfte unserer Laternen in Fetzen von zerbrochenen Stöcken. Die Stimmung könnte besser nicht sein. Größere Kinder jagen ihre kleineren Geschwister mit brennenden Fackeln. Der Kampfhund des sympathischen Nachbarn bellt lustig und schnappt verspielt nach vorbeilaufenden Kinderbeinen. Der Mob ist bereit.

Und dann die Hiobsbotschaft. Mit Tränen in den Augen steht Ida vor mir und gibt weiter, was soeben in den Reihen der Blaskapelle geflüstert wurde. „Der Sankt Martin kommt nicht! Sein Pony ist krank.” Sie sagt es zu laut. Die Welt steht für einen Moment still. Dann weiten sich Augen. Unterlippen beginnen zu beben. Nun bricht das Chaos los. Kinder schreien. Mütter wehklagen. Männer raufen sich gegenseitig die Haare aus. Die Verzweiflung ist groß. Was sollen wir nur tun? Was im Leben macht jetzt noch Sinn? Am Ende spricht der Ortsbürgermeister ein Machtwort. „Wir lassen uns den Martinszug nicht nehmen! Wir laufen trotzdem. Jetzt erst recht!” Der Mob beruhigt sich. Köpfe nicken. Mütter trocknen Kindertränen. Zustimmendes Gemurmel. „Das Pony sah schon im letzten Jahr nicht gut aus.” „Nach meiner Lara hat das Vieh geschnappt. Hoffentlich stirbt der Gaul!”

Und so wird unser Martinszug zu einer wütenden Protestbewegung. Trotzig marschieren wir gegen die Unwägbarkeiten des Lebens. Die Blaskapelle spielt zornig ihr limitiertes Repertoire an Martinsliedern und wir brüllen „Rabimmel, Rabammel, Rabumm. BUMM! BUMM!” Wie montags in Dresden, schießt es mir durch den Kopf. Lag die Singbeteiligung im letzten Jahr noch bei unter 12%, so steigt sie heute Abend auf nahezu sozialistische 90%. Wenn der deutsche Wutbürger Sankt Martin feiert, dann richtig.

Nur Emil will immer noch nicht wahrhaben, dass er Sankt Martin ohne Sankt Martin auskommen soll. Er fragt immer wieder nach dem Verbleib des berittenen Helden und am Ende müssen wir ihm erzählen, dass das Pony vermutlich dem Angriff eines riesigen Leoparden-Rudels zum Opfer gefallen ist und gefressen wurde. Das leuchtet Emil ein. Ob auch ein Gorilla an dem Pony-Mord beteiligt war, will er noch wissen. Natürlich war da auch ein Gorilla. Wahrscheinlich sogar zwei.

Später sitzen wir um ein loderndes Feuer. Menschen starren in die Flammen. Auf den Bänken liegen zerstückelte Weckmänner. Kinder spielen, mit Tonpfeifen im Mund, fangen. Im Hintergrund werden Würstchen verkauft und tote Hühner und Enten verlost. Lotte gewinnt eine Ente. Wir schleppen die Geflügel-Leiche in einer Plastiktüte nach Hause und Lotte wird nicht müde zu betonen, dass unsere Familie noch niemals zuvor so viel Glück gehabt hätte.

© Anselm Maria Sellen